| Presseinformation Nr. 062 / 2021

Gesichertes Wissen über COVID-19

European Group on Immunology of Sepsis (EGIS) fasst wichtigste Erkenntnisse der durch SARS-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Erkrankung in einer aktuellen Übersichtsarbeit kritisch zusammen. Wissenschaftler*innen aus Wien, Göttingen und Jena koordinieren Autor*innen-Gruppe mit dem Ergebnis: COVID-19 wird als neuartige virale Erkrankung mit einem ausgeprägten vaskulären Entzündungsanteil verstanden, die in schweren Verläufen durch eine fehlregulierte Immunantwort auf die virale Infektion gekennzeichnet ist. Veröffentlicht am 6. Mai 2021 in „Lancet Respiratory Medicine“.

+++ Gemeinsame Presseinformation der Universitätsmedizin Göttingen und des Universitätsklinikums Jena +++

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European Group on Immunology of Sepsis (EGIS) fasst wichtigste Erkenntnisse der durch SARS-CoV-2 ausgelösten COVID-19-Erkrankung in einer aktuellen Übersichtsarbeit kritisch zusammen. Einer der Erst-Autoren der Publikation, Priv.-Doz. Dr. Martin Winkler, Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Foto: umg

(umg/vdG/UKJ) Die COVID-19-Pandemie hat einen beispiellosen Wettlauf um wissenschaftliche Erkenntnisse angestoßen, wie die Ansteckung zurückgedrängt und die Ausmaße und Folgen der Erkrankung begrenzt werden können. Die daraus entstehende Flut von wissenschaftlichen Daten nahezu aller biomedizinischen Fachdisziplinen ist selbst für Expert*innen kaum noch beherrschbar. Während Maßnahmen zur Infektionsprävention schnell bekannt und Impfungen im Rekordtempo entwickelt wurden, bleiben wichtige Fragen zu den Krankheitsmechanismen unterschiedlicher Krankheitsverläufe (asymptomatisch bis kritisch krank) ungeklärt und dadurch fehlen wichtige Voraussetzungen für die Entwicklung evidenzbasierter Behandlungsstrategien gegen COVID-19.

Koordiniert von Autor*innen aus Wien, Göttingen und Jena hat die „European Group on Immunology of Sepsis“ (EGIS) die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und kritisch ausgewertet. In einem Übersichtsartikel fasst die Autorengruppe die wichtigsten Erkenntnisse zu den Krankheitsmechanismen (Pathophysiologie) von COVID-19 zusammen. In ihrer Recherche kommen die Expert*innen zu dem Ergebnis: Im Unterschied zu anderen Corona-Viren, die häufig nur milde bis moderate Erkältungssymptome verursachen, vermehrt sich SARS-CoV-2 in den unteren Atemwege und löst so eine schwere Lungenentzündung bis hin zu akutem Lungenversagen aus. Ein entscheidender „infektiöser Vorteil“ von Sars-CoV-2 ist, dass es gleichzeitig auch die oberen Atemwege lang andauernd besiedelt und sich dort vermehrt. Die Erkenntnisse der umfassenden Übersichtsarbeit sind am 6. Mai 2021 erschienen in „Lancet Respiratory Medicine“.

Originalpublikation:
Osuchowski MF, Winkler MS, et al.: The COVID-19 puzzle: deciphering pathophysiology and phenotypes of a new disease entity. Lancet Respir Med 2021 May 6 DOI: 10.1016/S2213-2600(21)00218-6

SARS-CoV-2 schädigt das Gefäßendothel

„Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass wir in einer bestimmten Phase der Erkrankung Patienten sehen, deren Sauerstoffgehalt im Blut kritisch reduziert ist, die aber zunächst oft keine Einschränkungen der Lungenbelüftung zeigen. Patienten atmen selbst in Ruhe nicht selten ein Vielfaches als normal üblich. Dies ist neu für uns“, sagt einer der beiden Erst-Autoren der Publikation, Priv.-Doz. Dr. Martin Winkler, Klinik für Anästhesiologie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). „Vermutlich ist dies ein Ausdruck dafür, dass die virale Infektion zunächst eher die Blutgefäße betrifft als die belüfteten Areale der Lunge und so den schweren Sauerstoffmangel verursacht. Durch eine virusbedingte Schädigung der innersten Zellschicht von Blutgefäßen, dem Endothel, erklären sich auch andere häufige COVID-19 typische Organkomplikationen durch z.B. Thrombosen oder Gerinnungsstörungen“, so Priv.-Doz. Dr. Winkler.

Dazu kommt eine untypische Immunantwort. Im Vergleich zu Influenza und anderen schweren Infektionen werden bei COVID-19 über einen längeren Zeitraum entzündungsfördernde Botenstoffe (Zytokine) produziert, jedoch in deutlich niedrigerer Konzentration. Dieses untypische Entzündungsprofil unterscheidet COVID-19 von anderen septischen Krankheitsbildern und erschwert möglicherweise die Immunantwort und damit auch die effiziente Elimination des Virus. Tatsächlich ist eine hohe virale Belastung mit der Erkrankungsschwere assoziiert.

COVID-19: eine neuartige schwere Lungeninfektion

Im Verbund mit einer fehlregulierten Entzündungsantwort kann die Schädigung des Endothels nicht nur die Lunge, sondern auch die Funktionen anderer Organe, wie Gehirn, Herz, Nieren, Darm und Leber, beeinträchtigen. Verglichen mit einer Influenza-Grippe oder SARS treten bei COVID-19 Komplikationen, wie Multiorganversagen und schwere Gerinnungsstörungen, häufiger auf.

„SARS-CoV-2 ist ein neues infektiöses Pathogen, welches unserer Immunsystem vor eine neue Herausforderung stellt. Es wird damit verständlich, dass unsere Herangehensweise nicht die sein darf, bekannte und bisher vertretene Konzepte schlicht auf COVID-19 zu übertragen“, sagt Priv.-Doz. Dr. Marcin Osuchowski vom Ludwig Boltzmann Institut für Traumatologie, Forschungszentrum der AUVA in Wien, ebenfalls Erst-Autor der Publikation. „Es wird zunehmend deutlich, dass die Schwere von COVID-19-Erkrankungen mit einer fehlregulierten Antwort des Immunsystems in Zusammenhang steht, die sich von bislang bekannten Mechanismen und Ursachen einer Sepsis unterscheidet. Wir raten zur Vorsicht gegenüber der weit verbreiteten Vorstellung eines systemischen Zytokinsturms als führender Grund für die beobachteten Multiorganreaktionen. Die Datenlage dazu ist noch nicht eindeutig“, so Priv.-Doz. Dr. Osuchowski.

In ihrer Übersicht formuliert die EGIS-Gruppe zudem Forschungsfragen, die mit hoher Priorität zu beantworten sind. Dazu zählen unter anderem die genauere Charakterisierung der bekannten und die Identifizierung neuer Prognosemarker für den Verlauf und Langzeitfolgen der Erkrankung sowie qualitativ hochwertige klinische Studien zur Optimierung der gerinnungshemmenden und immunmodulatorischen Therapien.

„Die vorbehaltfreie Zusammenarbeit über Fächer- und Ländergrenzen hinweg ist entscheidend, gerade in der derzeitigen Situation“, sagt einer der EGIS-Koordinatoren und Letztautor der Publikation Dr. Ignacio Rubio, Klinik für Anästhesiologie und Intensivmedizin. Universitätsklinikum Jena. „Nur durch eine größtmögliche Bündelung wissenschaftlicher Expertise werden wir in unseren Streben nach gesichertem ‚COVID-19-Wissen‘ entscheidend vorankommen“, so Dr. Rubio.

Internationale, interdisziplinäre Kooperation für gesichertes COVID-19-Wissen

Koordiniert von Autor*innen aus Wien, Göttingen und Jena hat die „European Group on Immunology of Sepsis“ (EGIS) die Masse der erschienenen Publikationen gesichtet und kritisch ausgewertet. Das EGIS-Netzwerk bietet als in 2018 etablierte wissenschaftliche Diskussionsplattform für Fragen zur Immunologie der Sepsis durch seine Interdisziplinarität beste Voraussetzungen, um die ausufernde COVID-Datenmenge zu sichten und kritisch zu durchleuchten. EGIS umfasst 27 Wissenschaftler*innen aus zehn Ländern und verschiedenen Fachdisziplinen.

Weitere Informationen:
European Group on Immunology of Sepsis: http://www.egis-online.eu/

 

WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Klinik für Anästhesiologie
Priv.-Doz. Dr. Martin Sebastian Winkler
Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen
Telefon 0551/ 39-67701
Email: martin.winkler@med.uni-goettingen.de
www.umg.eu

 

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