„Waisenkinder der Medizin“ – Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen unterstützt Betroffene bei der Suche nach Therapien

In der Europäischen Union gilt eine Erkrankung als selten, wenn sie höchstens eine von 2.000 Personen betrifft. Laut dem Nationalen Aktionsbündnis für Menschen mit seltenen Erkrankungen gibt es weit über 8.000 verschiedene Erkrankungen, die als selten eingestuft werden. Betrachtet man sie in ihrer Gesamtheit, ergibt sich eine sehr hohe Zahl an Betroffenen: Allein in Deutschland leben über vier Millionen Menschen mit einer seltenen Erkrankung.
„Nicht nur die schiere Anzahl an seltenen Erkrankungen stellt eine Herausforderung dar, sondern auch die Tatsache, dass die Symptome bei derselben Krankheit stark variieren oder sich im Laufe der Zeit verändern können“, sagt Dr. Payam Dibaj, medizinischer Koordinator des Zentrums für Seltene Erkrankungen Göttingen (ZSEG). „Außerdem ähneln seltene Erkrankungen oft auch häufigeren Erkrankungen wie beispielsweise der Alzheimer-Demenz, bei der die Nervenzellen im Gehirn nach und nach absterben und Symptome wie Vergesslichkeit, Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit verursachen. Da viele Patient*innen diese Diagnose erhalten, ist die Erkrankung entsprechend bekannt. Allerdings gibt es seltene Demenzformen, die sogar schon im Kindesalter ausbrechen. Diese Unterscheidung ist oft nicht einfach und erschwert es selbst erfahrenen Ärzt*innen, eine zuverlässige Diagnose zu stellen“, so Dibaj.
Die Seltenheit als gemeinsames Merkmal bringt dazu zahlreiche weitere Herausforderungen mit sich: Aufgrund der geringen Patient*innenzahlen sind diese zum Teil sehr komplexen Erkrankungen oftmals kaum erforscht. Als Konsequenz fehlen wichtige Informationen über den Krankheitsverlauf, was die Diagnostik erschwert. Psychosoziale Unterstützungsangebote für Betroffene sind kaum vorhanden oder nur schwer zugänglich, und die Entwicklung neuer Medikamente gilt angesichts der wenigen Patient*innen als wirtschaftlich unrentabel.
Was es tatsächlich bedeutet, mit einer seltenen Erkrankung zu leben, wissen die Betroffenen selbst am besten. Dr. Barbara Schneyder und ihr Ehemann Marco Schneyder sind beide von unterschiedlichen seltenen Formen einer neuromuskulären Erkrankung betroffen. Hierbei kommt es zu einer Störung der Signalübertragung zwischen Muskeln und Nerven, und dies führt zu muskulärer Schwäche und Muskelschwund. Beide Erkrankungen zeigten sich bereits im frühen Kindesalter, und heute sind beide auf den Rollstuhl angewiesen. Dr. Barbara Schneyder sagt: „Uns ist bewusst, dass neuromuskuläre Erkrankungen trotz intensiver Forschung nicht heilbar sind. Die Herausforderung besteht für uns darin, unser Leben mit und trotz der Erkrankung aktiv zu gestalten. Für uns ist ein Rollstuhl ein willkommenes Hilfsmittel und ein wertvoller Begleiter, der uns die Freiheit schenkt, am normalen Leben teilzunehmen.“
Manche Formen seltener Erkrankungen treten bereits in der Kindheit auf, andere erst im fortgeschrittenen Erwachsenenalter. Die Beschwerden reichen von leichten Befindlichkeitsstörungen bis hin zu schwerwiegenden Symptomen und einer verkürzten Lebenserwartung. Auch das Krankheitsspektrum ist umfangreich und betrifft Herz-Kreislauf-Erkrankungen, neurologische und psychiatrische Leiden, aber auch Tumorerkrankungen. So wie bei Ingo Klaus, bei dem Anfang 2023 ein Sarkom, ein seltener bösartiger Tumor, diagnostiziert wurde. Diese Tumoren entstehen aus Zellen des Weichgewebes wie Fett-, Binde- oder Muskelgewebe, sogenannte Weichteilsarkome, oder im Knochen, auch Knochensarkome genannt. Weil sie so selten sind, werden sie häufig übersehen. An der UMG konnte Ingo Klaus im zertifizierten Sarkomzentrum der UMG schnell geholfen werden. „Seit der Behandlung bin ich beschwerdefrei und kann nun, abgesehen von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen, leben wie zuvor“, sagt Klaus.
Mit Aktionen wie dem Tag der Seltenen Erkrankungen rücken diese oft vergessenen „Waisenkinder der Medizin“ und Maßnahmen zur Unterstützung der Betroffenen in den Fokus der Aufmerksamkeit. Dazu zählt auch die Einrichtung von Zentren für Seltene Erkrankungen, wie dem ZSEG, die als zentrale Anlaufstelle für Betroffene und ihre behandelnden Ärzt*innen dienen. Das ZSEG hilft bei der Suche nach einer Diagnose, passenden Therapieangeboten und spezialisierten Expert*innen. Durch die Bündelung einer multidisziplinären Expertise kann das ZSEG oft auch bei komplexen Fällen eine Diagnose oder zumindest eine Linderung der Symptome und damit eine Verbesserung der Lebensqualität ermöglichen.
Für Personen, die den Verdacht haben, an einer seltenen Erkrankung zu leiden, sind die Hausärzt*innen die erste Anlaufstelle. Weitere Informationen zum Vorgehen und zur Arbeitsweise des ZSEG finden Sie unter: https://zseg.umg.eu/
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