| Presseinformation Nr. 102 / 2023

„Nicht gewappnet sein, ist keine Option“

Symposium der UMG „Lessons Learned: Was hat uns die Corona-Pandemie gelehrt?“ zieht Schlussfolgerungen aus der Corona-Pandemie. Renommierte Referent*innen aus Wissenschaft, Gesundheit und Gesellschaft berichten aus ihren Erfahrungen. Niedersachsens Wissenschaftsminister Falko Mohrs, Gesundheitsminister Dr. Andreas Philippi und Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt mit Grußworten. UMG Corona Krisenstab aufgelöst.

Link zur Presseinformation Nr. 102 / 2023 "Nicht gewappnet sein, ist keine Option"
UMG Symposium „Lessons Learned“ zur Corona-Pandemie (v.l.): Falko Mohrs (Wissenschaftsminister Niedersachsen), Dr. Martin Siess (Vorstandsvorsitzender Klinikum rechts der Isar, TU München), Prof. Dr. Tobias Welte (Direktor Klinik für Pneumologie, MHH), Dr. Andreas Philippi (Gesundheitsminister Niedersachsen), Prof. Dr. Wolfgang Brück (Sprecher des Vorstandes UMG), Petra Broistedt (Oberbürgermeisterin Göttingen), Prof. Dr. Simone Scheithauer (Direktorin Institut für Krankenhaushygiene und Infektiologie, UMG), Prof. Dr. Lorenz Trümper (Vorstand Krankenversorgung UMG), Prof. Dr. Viola Priesemann (MPI Dynamik und Selbstorganisation), Prof. Dr. Metin Tolan (Präsident Universität Göttingen). Foto: umg/spförtner
Link zur Presseinformation Nr. 102 / 2023 "Nicht gewappnet sein, ist keine Option"
UMG Symposium „Lessons Learned“ zur Corona-Pandemie: Rund 160 Zuhörende nahmen im Tagungs- und Veranstaltungshaus Alte Mensa der Universität Göttin-gen teil. Foto: umg/spförtner

(umg) Gesellschaft und Gesundheitswesen haben drei intensive Jahre lang die Corona-Pandemie gemeistert. Das hat alle Akteure aus Medizin, Wissenschaft, Gesundheitswesen und gesellschaftliche Institutionen vor gewaltige Herausforderungen gestellt. Mit den Auswirkungen der Pandemie und den Lehren daraus beschäftigte sich das Symposium „Lessons Learned: Was hat uns die Corona-Pandemie gelehrt?“ der Universitätsmedizin Göttingen (UMG). Hochkarätige Referent*innen aus Wissenschaft, Gesundheit und Gesellschaft diskutierten vor und mit rund 160 Zuhörer*innen am Samstag, dem 9. September 2023, im Adam-von-Trott-Saal im Tagungs- und Veranstaltungshaus Alte Mensa der Universität Göttingen über ihre Erfahrungen. Virologen, Intensivmediziner, Krankenhaushygieniker, Klinik- und Krisenstabsleitungen, Soziologen, Epidemiologen, Medizinethiker, Pflege- und Kirchenvertreter zogen ihre Lehren und Schlussfolgerungen zu den Kernfragen: Wie und warum haben wir in der Notsituation entschieden? Wäre unsere Entscheidung im Rückblick eine andere? Was sollten wir unbedingt sichern und ausbauen? Was sollten wir vorbereiten und anders angehen? Veranstalter waren der Vorstand der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und die Leitung des Corona-Krisenstabs der UMG.

Grußworte zu Beginn des Symposiums sprachen Falko Mohrs, niedersächsischer Minister für Wissenschaft und Kultur, Dr. Andreas Philippi, niedersächsischer Minister für Soziales, Arbeit, Gesundheit und Gleichstellung, sowie Petra Broistedt, Oberbürgermeisterin der Stadt Göttingen.

Niedersachsens Wissenschaftsminister Falko Mohrs dankte ausdrücklich allen Beteiligten im Krisenstab der UMG: „Sie alle sind über sich hinausgewachsen. Ich spreche Ihnen die Anerkennung der Landesregierung aus für alles das, was Sie geleistet haben. Wir wollen aus dieser Pandemie lernen. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie“, so Mohrs. Die Pandemie habe eine völlig neue Situation für alle geschaffen. Mit der Geschwindigkeit und dem Pragmatismus bei den Entscheidungen waren alle schneller in der Lage als sonst, ins Ziel zu kommen. Zudem habe es ein hohes mediales Erklärbedürfnis durch die Wissenschaft in der Bevölkerung gegeben.

Dr. Andreas Philippi, niedersächsischer Gesundheitsminister, sagte: „Praktisch waren wir unzureichend vorbereitet.“ Die Corona-Krise habe die langjährigen Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen und ständige Personalverknappung spürbar werden lassen. Das neue niedersächsische Krankenhausgesetz böte hier eine Neuaufstellung. Philippi dankte auch ausdrücklich den vielen Medizinischen Fachangestellten und den Ämtern des öffentlichen Gesundheitsdienstes, ohne die die tausenden Abstriche und Impfungen gar nicht möglich gewesen wären. „Wir brauchen effektive Frühwarnsysteme“, so der Gesundheitsminister.

Die Göttinger Oberbürgermeisterin Petra Broistedt dankte dem Krisenstab und der UMG für deren Beteiligung an der täglichen Arbeit des Krisenstabes der Stadt: „Wir waren auf diese Krise nicht vorbereitet. Wir mussten täglich Entscheidungen treffen, die uns nicht leicht gefallen sind.“ Zu Isolation von Gebäuden und Bereichen, Schulschließungen und Besuchsverboten, besonders schlimm in Altenheimen und Pflegeeinrichtungen. „Wir haben daraus gelernt und gesehen: Göttingen hält zusammen“, so die Oberbürgermeisterin.

Prof. Dr. Onnen Mörer, Leiter Intensivmedizin der Klinik für Anästhesiologie der UMG, sagte: „Wir wussten, dass wir schlecht aufgestellt sind. Wir standen täglich vor der Situation: Wie geht es morgen weiter? Bricht die Welle über uns zusammen?“ Das bedeutete eine enorme Belastungssituation für die Teams bis hin zur völligen Erschöpfung und des Burn-Outs. Die Versorgung der COVID 19-Patient*innen veränderte die Lage der ohnehin im normalen Alltag ausgelasteten Intensivstationen völlig. Corona-Patient*in­nen wurden zum Teil mit 40 bis 60 Tagen Liegezeit versorgt – und deren Leben gerettet. Die gesamte Logistik musste in einen COVID-Modus überführt werden. „Der Mut und der Wille der Teams, trotz Familie und ihrer Umgebung, ohne Impfung der Gefahr einer Infizierung ausgesetzt zu sein, war absolut vorbildlich“, so Mörer. Geholfen hätten die regionalen Netzwerke, die unbürokratische und pragmatische Abstimmung bei der Verlegung und Übernahme von COVID-Patient*innen unter den Kliniken der Region und im Kleeblatt-System bis hin zum Transport von ECMO-Patient*innen mit schwersten Lungenversagen. Das alles habe vielen Patient*innen das Leben gerettet. Gleichzeitig hätten die Unikliniker ebenfalls im Forschungsverbund mit einer enormen Geschwindigkeit den Erkenntnisgewinn für die Wissenschaft vorangetrieben, den Datengewinn und Austausch von Werten beschleunigt. Mörers Fazit mit dem Blick nach vorne: „Nicht gewappnet sein, ist keine Option!“

Prof. Dr. Michael Albrecht, Medizinischer Vorstand und Sprecher des Universitätsklinikums Carl Gustav Carus Dresden, sagte: „Die Corona-Pandemie war ein Stresstest für die medizinische Versorgung und für die ganze Gesellschaft.“ Albrecht hob besonders das Netzwerken, die Clusterbildungen unter den sächsischen Kliniken als beispielhaft hervor. Sie bleibt bis heute bestehen und dient auch dafür, gemeinsame Meldestatistiken für die Politik nutzbar zu machen.

Prof. Dr. Tobias Welte, Direktor der Klinik für Pneumologie und Infektiologie der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH), sagte: „Die Pandemie ist ein medizinisches Ereignis, aber die Folgen sind gesellschaftlich und sozial.“ Welte sieht ein hohes Risiko für eine nächste Pandemie in den nächsten 10 Jahren. „Erst Recht, weil wir global unterwegs sind.“ Der MHH-Pneumologe fordert eine zentrale Steuerung der Maßnahmen und eine stärkere Rolle der Kommunikation: „Maßnahmen zu beschließen, ohne sie zu vermitteln, ist sinnlos“, so Welte. Zudem bricht Welte eine Lanze für die Schutz-Impfungen: „Impfen hat diese Pandemie überwinden helfen.“

Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Lothar Wieler, ehemaliger Präsident des Robert Koch-Instituts (RKI) und Sprecher des Clusters Digital Health am Hasso-Plattner-Institut, dankte allen für ihr großes Engagement: „Das Medizinsystem hat großartiges geleistet bis an den Rand der Erschöpfung“. Er zog vier Lehren aus der Pandemie: 1. Vertrauen durch transparente Information zu den Pros und Contras durch öffentliche Gremien und Institutionen herstellen. Vertrauen müsse dabei aber schon im Vorfeld durch Vorabinformationen gebildet werden. 2. Kommunikation spiele eine entscheidende Rolle. Vor allem in den sozialen Medien. Es sei eine „Infodemie“ durch die Vielzahl von Informationen und auch durch gezielte Falschinformationen. entstanden Es müsse eine Kommunikations-Trias aus politischer, wissenschaftlicher und medialer Kommunikation geben. 3. Für die Stärkung des öffentlichen Gesundheitswesens brauche es einen Pakt für Public Health und eine größere Wertschätzung der Akteure. 4. Bei der Digitalisierung sei der Ausbau dringend nötig. Die Daten der Patient*innen liegen in unterschiedlichen Daten-Silos, aber es gebe keine Vernetzung der Datenwelten. „Das ist ein unsäglicher Zustand“, so Wieler.

Christine Vogler, Präsidentin im Deutschen Pflegerat, kritisierte die Wahrnehmung der Pflegenden: „Die Pflege war in den Krisenstäben nicht abgebildet, obwohl sie direkt an den Patient*innen vor Ort gearbeitet hat.“ Allein die ambulante Pflege erreiche pro Tag in Deutschland 700 000 Menschen. „Warum werden wir Pflegende nicht besser eingebunden? Wir hätten vermutlich weniger Impfgegner gehabt, wenn die Pflegenden besser an den Entscheidungsprozessen und der Kommunikation beteiligt gewesen wären.“ Stattdessen habe man die Pflege immer als Kostenfaktor und nicht als notwendigen Bestandteil der medizinischen Versorgung gesehen.

Dr. Martin Siess, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender Klinikum rechts der Isar der Technischen Universität München, und Prof. Dr. Simone Scheithauer,Direktorin des Instituts für Krankenhaushygiene und Infektiologie der UMG zogen ihr Resümee. Siess, der als Vorstand Krankenversorgung bis zum Jahr 2021 den Corona-Krisenstab leitete, betonte vor allem die Rolle einer transparenten Kommunikation: „Kommunikation nach innen und außen ist maximal wichtig. Es kann gar nicht genügend kommuniziert werden“. Prof. Scheithauer stellte die Ergebnisse eines internen Workshops der Mitglieder des UMG Krisenstabes zum Thema „Lesson Learned“ vor, die fünf zentrale Punkte für einen initialen Handlungsbedarf ergaben: moderne Kommunikation und Digitalisierung, bessere Kooperation und Zugang zu Daten, Bereitstellung ausreichender Ressourcen.

Die Regionalbischöfin des Sprengels Hildesheim-Göttingen, Dr. Adelheid Ruck-Schrö­der, stellte fest, dass es durch die Abstufungen in „systemrelevante“ Gruppen in der Bevölkerung zu Kränkungen gekommen sei bis hin zu einer „übermoralischen Erregungskultur“. Kirche musste völlig neue Formen für ihre Kernfunktion, der gemeinschaftlichen Gemeindearbeit, aufgrund von Isolation und Rückzug erfinden.

Prof. Dr. Viola Priesemann,Professorin am Max-Planck-Institut für Dynamik und Selbstorganisation Göttingen, plädierte in der Kommunikation für mehr Sachlichkeit und „mehr Raum für die ruhigen Stimmen. Die haben uns gefehlt“, so Priesemann. Auch sie sah bei der Sammlung und dem Austausch von Daten einen enormen Bedarf für eine bessere Digitalisierung. Positiv bewertete Priesemann, dass im MPI eine unabhängige, flexible Grundlagenforschung von Anfang an möglich war. „Das war eine wichtige Voraussetzung für das Verständnis der Mechanismen.“

Ralf Heyder, Leiter der Koordinierungsstelle für das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) an der Charité Universitätsmedizin Berlin, zog als Lehren aus der Pandemie, dass die Überlastsituation an den Universitätskliniken beinahe die Forschung hat wegbrechen lassen. Zudem musste auf internationale Daten aus Großbritannien oder Israel zugegriffen werden, in Deutschland habe es keine ausreichende Datenlage gegeben. Um die Fragmentierung der Corona-Forschungsprojekte an den einzelnen Standorten zu überwinden, wollte man die Forschung bündeln, Synergieeffekte schaffen, „sich unterhaken“. Dafür wurde seitens der Bundesregierung das Netzwerk Universitätsmedizin (NUM) ins Leben gerufen. „Krise ist ein Katalysator, Krise ermöglicht Kooperation“, so Heyder. Das Forschungsnetzwerk NUM habe sich bereits so bewährt, trotz der Wettbewerbssituation der forschenden Uniklinika untereinander, dass es nun auch für andere Themen als standortübergreifender Forschungsverbund weiter genutzt werden soll.

Prof. Dr. Berthold Vogel, Geschäftsführender Direktor Soziologisches Forschungsinstitut Göttingen (SOFI) an der Georg-August-Universität, richtete den Blick auf die gesellschaftlichen Auswirkungen der Corona-Pandemie. „Corona hat den Blick auf die Gesellschaft geändert. Sie war ein Weckruf. Corona traf auf keine uniforme Gesellschaft. Sie hat die kollektive Verwundbarkeit unserer Wirtschafts- und Lebensweise vor Augen geführt und die sozialen und lokalen Ungleichheiten verstärkt“, sagte Vogel. Die Corona-Pandemie habe das politisch-kulturelle Misstrauen gegenüber öffentlichen Institutionen und Repräsentanten, auch gegenüber der Wissenschaft vertieft. Eine einheitliche Kommunikation sei unter diesen Rahmenbedingungen gar nicht möglich. Die Pandemie war für Vogel „ein Vergrößerungsglas, das soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten scharf heraushob, zudem Investitions- und Innovationsrückstände wie bei der Digitalisierung verdeutlichte und eklatante Mängel der Daseinsvorsorge rasch klar erkennbar machte“. Die Pandemie machte deutlich: „Gesundheit ist eine zentrale soziale Frage der Zukunft“, so Vogel.

Trotzdem sah Prof. Vogel auch positive Auswirkungen der Pandemie. Sie habe ein hohes Potential an Solidaritätsbereitschaft ausgelöst, das Thema Wertschätzung und Würde der Arbeit habe neue Aufmerksamkeit erhalten, und sie habe zu einer beachtlichen Innovations- und Improvisationsfähigkeit in weiten Teilen der Arbeitswelt, im sozialen Alltag, aber auch in Verwaltung, Gesundheitswesen und anderen öffentlichen Einrichtungen geführt.

Am Ende des Symposiums zog Prof. Dr. Lorenz Trümper, Vorstand Krankenversorgung der UMG, der gemeinsam mit Prof. Dr. Simone Scheithauer, Direktorin des Instituts für Krankenhaushygiene und Infektiologie der UMG, den UMG Krisenstab geleitet hatte, eine positive Bilanz des „Lern- und Lehrtages“. Offiziell erklärte Trümper die Arbeit des Krisenstabes der UMG an diesem Tag für beendet.


WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Unternehmenskommunikation, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Von-Siebold-Str. 3, 37075 Göttingen
Stefan Weller, Telefon 0551 / 39-61020
presse.medizin(at)med.uni-goettingen.de
www.umg.eu

Folgen Sie uns