Frühkindliche Taubheit – Forschende am Göttingen Campus entschlüsseln Struktur und Funktion eines zentralen Hörproteins


Hören ist ein komplexer Prozess, der bis heute noch nicht vollständig verstanden ist. Trifft ein Geräusch auf die Haarsinneszellen im Innenohr, geraten diese in Schwingung. Durch diese Bewegung wird eine Spannungsänderung in den Zellen verursacht, die zur Öffnung von Kalziumkanälen in der Membran führt. Kalzium strömt ein und löst die Freisetzung eines Botenstoffes aus. Dieser wird innerhalb der Haarsinneszellen in kleinen Bläschen, den sogenannten Vesikeln, zur Kontaktstelle zwischen Haarsinneszellen und Hörnervenzellen, der Synapse, transportiert. Dort angekommen, lagern sich die Vesikel an die Membran der Haarsinneszellen an, verschmelzen in Folge von Kalziumbindung mit ihr und setzen den Botenstoff frei. Dieser aktiviert die gegenüberliegenden Hörnervenzellen, wodurch die Schallinformation an das Hörzentrum im Gehirn weitergeleitet wird.
Schlüsselmolekül für das Hören
Das OTOF-Gen ist für die Bildung des Proteins Otoferlin verantwortlich, das bei der Freisetzung des Botenstoffes eine entscheidende Rolle spielt. Fehlt Otoferlin oder ist seine Funktion beeinträchtigt, kann die Schallinformation nicht an das Gehirn weitergeleitet werden – eine Erkrankung, die als auditorische Synaptopathie bekannt ist und eine häufige Form frühkindlicher Taubheit darstellt. Wie genau das Otoferlin diesen Prozess beeinflusst, war bisher nicht vollständig geklärt.
Wissenschaftler*innen der Universitätsmedizin Göttingen (UMG), des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC) und des neuen Sonderforschungsbereichs 1690 „Krankheitsmechanismen und funktionelle Wiederherstellung von sensorischen und motorischen Systemen“ ist es jetzt gelungen, die Struktur und Funktion von Otoferlin zu entschlüsseln. Die Ergebnisse zeigen, dass das Otoferlin eine ringförmige Struktur mit mehreren Bindestellen für Kalzium aufweist. Die Bindung von Kalzium und Membranlipiden führt zu einer Veränderung der Otoferlin-Struktur, in deren Folge das Vesikel eng an die Membran „angedockt“ und so die Verschmelzung vorbereitet wird. Otoferlin funktioniert dabei als Kalzium-Sensor für die Botenstofffreisetzung: Sind alle Bindestellen von Otoferlin mit Kalzium belegt, kommt es zur Verschmelzung der Vesikel mit der Membran, an der vermutlich weitere Proteine beteiligt sind.
„Dies ist ein Durchbruch im Verständnis der molekularen Grundlagen des Hörens. Wir verstehen jetzt besser, wie das Otoferlin funktioniert und warum Veränderungen im OTOF-Gen, sogenannte Mutationen, zur Fehlfunktion des Proteins führt“, sagt Prof. Dr. Tobias Moser, Direktor des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften der UMG, Sprecher des MBExC und SFB 1690 sowie Letztautor der Studie. „Diese neuen Erkenntnisse sind nicht nur grundlegend für das Verständnis der Hörverarbeitung, sondern auch hochrelevant für die klinische Forschung: Für OTOF-Mutationen wurde bereits die erste Gentherapie am Innenohr in klinischen Studien erfolgreich getestet. Detailliertes Wissen über Struktur und Funktion des Otoferlins eröffnet nun die Möglichkeit, diese Therapien gezielt zu optimieren.“
Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift „Science Advances“ erschienen.
Originalpublikation:
Han Chen, Constantin Cretu, Abigail Trebilcock, Natalia Evdokimova, Norbert Babai, Laura Feldmann, Florian Leidner, Fritz Benseler, Sophia Mutschall, Klara Esch, Csaba Zoltan Kibedi Szabo, Vladimir Pena, Constantin Pape, Helmut Grubmüller, Nicola Strenzke, Nils Brose, Carolin Wichmann, Julia Preobraschenski and Tobias Moser. Structure and function of otoferlin, a synaptic protein of sensory hair cells essential for hearing. Science Advances (2025). DOI: 10.1126/sciadv.ady8532
Die Studie im Detail
Das Göttinger Team nutzte für die Untersuchungen eine Kombination aus verschiedenen Methoden.
Mit der Kryo-Elektronenmikroskopie, kurz Kryo-EM, wurde die Struktur des Otoferlins untersucht. Dazu wurde das Protein in einer Lösung schockgefroren und anschließend in einem Elektronenmikroskop bei minus 196 Grad Celsius untersucht. Am Mikroskop wurden tausende Einzelbilder des Otoferlins aufgenommen und anschließend mithilfe von Hochleistungsrechnern eine dreidimensionale (3D)-Struktur errechnet. Anhand dieser hochauflösenden Schnappschüsse konnten die Forschenden das Otoferlin erstmals in fast atomarer Auflösung – in seiner freien Form sowie in seiner an künstliche Membranen gebundenen Form – darstellen. Dabei zeigte sich, dass Otoferlin eine ringartige Struktur bildet, die durch Bindung von Kalzium und Lipiden verändert wird und die Lipidmembran aktiv verformen kann. „Mit der hochaufgelösten Struktur von Otoferlin haben wir erstmals die molekulare Architektur dieses einzigartigen Hörproteins sichtbar gemacht. Wir konnten sehen, wie sich bestimmte Bereiche des Proteins, sogenannte Domänen, bewegen und zusammenwirken, um die schnelle Signalübertragung im Innenohr zu ermöglichen“, erklärt Ko-Erstautor Dr. Constantin Cretu, der als Junior Fellow des MBExC die Strukturbiologie-Analysen durchgeführt hat.
Molekulardynamische Computersimulationen in Zusammenarbeit mit Forschenden um Prof. Dr. Helmut Grubmüller, Leiter der Abteilung „Theoretische und Computergestützte Biophysik“ am Max-Planck-Institut für Multidisziplinäre Naturwissenschaften (MPI-NAT), bestätigten anschließend, dass mehrere C2-Domänen gleichzeitig mit der Membran interagieren und so das Andocken und Verschmelzen synaptischer Vesikel ermöglichen.
In Kooperation mit Prof. Dr. Nils Brose, Leiter der Abteilung „Molekulare Neurobiologie“ am MPI-NAT, konnte im Tiermodell nachgewiesen werden, dass gezielte Veränderungen einzelner Kalzium-Bindungsstellen in Otoferlin zu einer fehlerhaften Schallübertragung führten. Insbesondere kam es durch die gestörte Kalziumbindung an Otoferlin zu einer Verminderung der Freisetzungswahrscheinlichkeit der Vesikel bei Reizung der Haarsinneszellen. Eine hohe Freisetzungswahrscheinlichkeit ist ein entscheidender Mechanismus für die hochpräzise Signalübertragung im Ohr. „Die genetischen Mausmodelle haben uns gezeigt, wie empfindlich das System auf kleinste Veränderungen reagiert. Schon der Ausfall einzelner Kalzium-Bindungsstellen führte zu Defiziten in der synaptischen Übertragung von Schallinformation – ein direkter Beleg für die zentrale Rolle von Otoferlin als Kalzium-Sensor der Vesikelfreisetzung“, ergänzt Erstautor Han Chen, der die Analyse der Otoferlin-Funktion im Mausmodell maßgeblich vorangetrieben hat.
Weitere Informationen finden Sie auf den Webseiten des Instituts für Auditorische Neurowissenschaften, des Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging” (MBExC) und des Sonderforschungsbereichs 1690.
Ansprechpartner Fachbereich:
Prof. Dr. Tobias Moser, Institut für Auditorische Neurowissenschaften, Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging (MBExC), Sonderforschungsbereich 1690, Telefon 0551 / 39-63071, tobias.moser@med.uni-goettingen.de, www.auditory-neuroscience.uni-goettingen.de
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