Innovative Technologie erlaubt neue Erkenntnisse zur Entstehung schwerer Erkrankungen


Mitochondrien sind die „Kraftwerke der Zelle“. Sie liefern dem Körper die Energiewährung Adenosin-Triphosphat (ATP), die alle Körperaktivitäten antreibt. Bei der ATP-Herstellung verbrauchen die Mitochondrien unter anderem zirka 95 Prozent des eingeatmeten Sauerstoffs. Dieser Prozess findet an der sogenannten Atmungskette in den Mitochondrien statt, die aus zahlreichen einzelnen Proteinen aufgebaut wird. Funktionsstörungen in der Atmungskette führen zu schweren und häufig tödlichen Erkrankungen, die Skelettmuskel- und Nervenzellen, aber auch das Herz betreffen können.
Mitochondrien besitzen ihr eigenes Erbgut, die mitochondriale DNA, kurz mtDNA. Diese wird für die Herstellung von dreizehn zentralen Proteinen der Atmungskette benötigt. Viele der mitochondrialen Erbkrankheiten beruhen auf Veränderungen der mtDNA, wodurch es zu Funktionsausfällen der Atmungskette und damit zu einer Störung der Energieversorgung der Zelle kommt. Wie die mtDNA abgelesen und in Proteine übersetzt wird, ist bisher nur unzureichend geklärt. Grund dafür ist, dass es bislang keine Techniken gibt, die Proteinproduktion in Mitochondrien zu beeinflussen.
Forschenden um Prof. Dr. Peter Rehling, Direktor des Instituts für Zellbiochemie der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) und Mitglied des Göttinger Exzellenzclusters „Multiscale Bioimaging: Von Molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC), sind nun einen Schritt weiter: Ihnen ist es gelungen, eine neue Technologie zu entwickeln, mit der sich die Proteinbildung in den Mitochondrien lebender Zellen verändern lässt. Die mit Hilfe dieser neuen Technik gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen es, grundlegende Prinzipien der zellulären Energieproduktion zu verstehen und damit auch Rückschlüsse auf die Entstehung „Mitochondrialer Erkrankungen“ zu gewinnen. Das bereits im Jahr 2023 begonnene Projekt „Mechanistische Erkenntnisse zur mitochondrialen Genexpression“, kurz „MiXpress“, wird durch den Europäischen Forschungsrat (ERC) mit knapp zwei Millionen Euro für fünf Jahre gefördert.
Die Ergebnisse der Studie wurden kürzlich in der renommierten Fachzeitschrift „Science“ veröffentlicht.
Originalpublikation:
Cruz-Zaragoza LD, Dahal D, Koschel M, Boshnakovska A, Zheenbekova A, Yilmaz M, Morgenstern M, Dohrke J-N, Bender J, Valpadashi A, Henningfeld KA, Oeljeklaus S, Kremer LD, Breuer M, Urbach O, Dennerlein S, Lidschreiber M, Jakobs S, Warscheid B & Rehling P. Silencing mitochondrial gene expression in living cells. Science (2025). DOI: 10.1126/science.adr3498
Die Studie im Detail
Der Prozess der Bildung wichtiger Proteine der Atmungskette in den Mitochondrien ist sehr komplex. Störungen im Ablauf können zu einer Vielzahl von Krankheiten führen, einschließlich Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Erkrankungen des Nervensystems. „Um die molekularen Mechanismen der Proteinbildung in Mitochondrien zu verstehen, brauchen wir experimentelle Ansätze, die es uns erlauben, die einzelnen Schritte zu beeinflussen”, sagt Prof. Rehling, Seniorautor der Publikation. „Solche Technologien helfen uns zu verstehen, wie Störungen eines biologischen Prozesses die Zellen verändern. Zudem können wir damit untersuchen, wie die Zellen auf solche Veränderungen reagieren, um diese auszugleichen.“ Bisher fehlten jedoch experimentelle Strategien, um die Proteinbildung in Mitochondrien zu untersuchen. Bereits etablierte Techniken, wie zum Beispiel die Genschere (CRISPR), mit der das Erbgut gezielt verändert werden kann, funktionieren in den Mitochondrien nicht, da die Membran der Mitochondrien eine unüberwindbare Barriere für die Genschere darstellt.
Gezielte Ausschaltung von Proteinen in lebenden Zellen
Mit der neuen Technik der Göttinger Forschenden wird die Barriere der Mitochondrien überwunden. Sie verwenden ein chemisch verändertes kleines Proteinfragment, das als Chimär bezeichnet wird. Es enthält die notwendige Information, eine Art „Postleitzahl“, um in die Mitochondrien zu gelangen. Dort angekommen, greift es gezielt in den Prozess der Proteinbildung ein. Damit ein Protein gebildet werden kann, muss zunächst eine Kopie des Erbgutes, in diesem Fall der mtDNA, erstellt werden. Diese Kopie enthält den Bauplan des zu bildenden Proteins. Das Chimär wurde im Vorfeld so gebaut, dass es sich gezielt an den Bauplan eines ausgewählten Proteins anlagert und dadurch die weiteren Schritte zur Erstellung eines funktionsfähigen Proteins blockiert. Auf diese Weise kann untersucht werden, wie sich der Stoffwechsel der Zelle verändert, wenn bestimmte Proteine nicht mehr gebildet werden.
Die Forschenden waren zudem in der Lage, die Proteinbildung in den Mitochondrien von Herzmuskel- und Leberzellen zu beeinflussen. „Mit Hilfe der neuen Technologie kann jetzt erstmals untersucht werden, wie Zellen auf sehr spezifische Störungen der Proteinproduktion reagieren", so Dr. Luis Daniel Cruz-Zaragoza, Gruppenleiter am Institut für Zellbiochemie der UMG und Erstautor der Studie. „Damit ergeben sich völlig neue Möglichkeiten, Einblicke in die Entstehung mitochondrialer Erkrankungen zu gewinnen und darauf aufbauend neue Therapien zu entwickeln.“
Der Göttinger Exzellenzcluster MBExC
Der Göttinger Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC) wird seit Januar 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert. Mit einem einzigartigen Forschungsansatz untersucht MBExC die krankheitsrelevanten Funktionseinheiten elektrisch aktiver Herz- und Nervenzellen, von der molekularen bis hin zur Organebene mithilfe von innovativen bildgebenden Verfahren, wie optischer Nanoskopie, Röntgenbildgebung und Elektronentomographie. Hierfür vereint MBExC zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Göttingen Campus-Partner. Das übergeordnete Ziel: den Zusammenhang von Herz- und Hirnerkrankungen zu verstehen, Grundlagen- und klinische Forschung zu verknüpfen, und damit neue Therapie- und Diagnostikansätze mit gesellschaftlicher Tragweite zu entwickeln.
Weitere Informationen:
Rehling-Labor: https://biochemie.uni-goettingen.de/index.php/mitochondrial-protein-biogenesis-v-2/
Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC): https://mbexc.de/de/
Ansprechpartner*innen Fachbereich:
Prof. Dr. Peter Rehling, Institut für Zellbiochemie, Telefon 0551 / 39-65947, peter.rehling@med.uni-goettingen.de, https://biochemie.uni-goettingen.de/
Dr. Heike Conrad, Koordination Pressearbeit Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging (MBExC), Telefon 0551 / 39-61305, heike.conrad(at)med.uni-goettingen.de
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