| Presseinformation Nr. 155 / 2021

Wie Matrix-Recycling das Gehirn flexibel hält

Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters Multiscale Bioimaging beschreiben neuen Mechanismus, der zum Erhalt der synaptischen Plastizität im erwachsenen Gehirn beiträgt. Veröffentlicht in Nature Communications.

Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters Multiscale Bioimaging beschreiben neuen Mechanismus, der zum Erhalt der synaptischen Plastizität im erwachsenen Gehirn beiträgt. Veröffentlicht in Nature Communications. v.l.: Erstautorin der Studie, Dr. Tal Dankovich, Postdoktorandin am Institut für Neuro- und Sinnesphysiologie, UMG. (Foto: Medienservice MPI für biophysikalische Chemie / P. Goldmann) sowie Seniorautor und MBExC-Mitglied Prof. Dr. Silvio O. Rizzoli, Direktor des Instituts für Neuro- und Sinnesphysiologie, UMG. (Foto: umg / fskimmel)

(mbexc/umg) Die extrazelluläre Matrix (EZM) gibt Zellverbänden ihre Struktur und spielt eine wichtige Rolle bei der Kommunikation und Steuerung von Zellen. Im erwachsenen Gehirn bildet sie ein Gitter, das die Nervenzellen und die Synapsen umhüllt. Die häufigen strukturellen Veränderungen an Synapsen erfordern fortlaufend Umbauprozesse dieser Gitterstruktur. Forschende am Göttinger Exzellenzcluster „Multiscale Bioimaging: Von Molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen“ (MBExC) beschreiben nun erstmals einen Umbau-Mechanismus, der auf Recycling einzelner Bestandteile der EZM basiert und eng mit der synaptischen Aktivität verbunden ist. Diese Erkenntnis ist auch bedeutsam für die klinische Forschung, da eine Vielzahl von Gehirnerkrankungen mit Veränderungen der EZM einhergehen. Am 8. Dezember 2021 wurden die Ergebnisse des Teams um Prof. Dr. Silvio O. Rizzoli, Direktor des Instituts für Neuro- und Sinnesphysiologie an der Universitätsmedizin Göttingen (UMG),  Sprecher des Center for  Biostructural Imaging and Neurodegenaration (BIN) und Mitglied im MBExC, in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications publiziert.

Originalveröffentlichung: Extracellular matrix remodeling through endocytosis and resurfacing of Tenascin-R. Dankovich TM, Kaushik R, OlsthoornLHM, Cassinelli Petersen G, Giro PE, Kluever V, Agüi-GonzalezP, Grewe K, Bao G, Beuermann S, Abdul Hadi H, Doeren J, Klöppner S, Cooper BH, Dityatev A, Rizzoli SO (2021) Nature Communications, Nat Commun 12, 7129 (2021).
DOI:
https://doi.org/10.1038/s41467-021-27462-7

Forschungsergebnisse im Detail

Im Gehirn bildet die extrazelluläre Matrix ein stabiles, netzartiges Gerüst, das die Nervenzellen und Synapsen umhüllt und wichtige Leitfunktionen erfüllt. Die außergewöhnliche Langlebigkeit ihrer Bestandteile verleiht der extrazellulären Matrix eine einzigartige Dauerhaftigkeit. Diese stabilisiert die neuronalen Schaltkreise, schränkt damit aber auch deren Anpassungsfähigkeit durch Umbau (Plastizität) ein.

Um die Funktion des Nervensystems dauerhaft zu gewährleisten, verfügt die EZM Erwachsener dennoch über eine gewisse Umbaufähigkeit. Dabei spalten zinkhaltige Enzyme, sogenannte Matrix-Metalloproteinasen, das Gitter in der Nähe der Synapsen und ermöglichen die Einbettung neugebildeter Bestandteile. Dies ist ein für die Zelle recht kostspieliger Prozess.

Strukturelle Veränderungen an Synapsen kommen erstaunlich häufig vor. Die Frequenz liegt dabei auf einer Zeitskala von Minuten bis Stunden. Die Hypothese der Göttinger Wissenschaftler*innen: Es muss ein zusätzlicher, weniger energie-aufwändiger Umbaumechanismus existieren, der auf Recycling anstelle von Neubildung der EZM-Komponenten setzt und eng mit der synaptischen Aktivität verbunden ist. Ein solcher Mechanismus würde der ECM die Flexibilität verleihen, die für häufige synaptische Veränderungen erforderlich ist.

Das Team konzentrierte sich auf einen bekannten Bestandteil der extrazellulären Matrix, das Glykoprotein TNR, um ihre Hypothese von der Existenz eines Recycling-Mechanismus zu prüfen. Die Kombination aus superauflösender Fluoreszenzbildgebung und Sekundärionen-Massenspektrometrie brachte die entscheidenden Einblicke. Die Wissenschaftler*innen konnten zeigen, dass sich ein Pool mobiler TNR-Moleküle an den Synapsen anreichert und über einen überraschend langen Zeitraum von etwa drei Tagen in die EZM ein- und wieder austritt. Mehr noch: Die TNR-Moleküle werden im Körper von Nervenzellen bis zum Golgi-Apparat transportiert. Dort werden sie, so vermuten die Forschenden, durch Anhängen von Kohlenhydraten (Glykosylierung) umgebaut, um dann erneut zu den Synapsen transportiert zu werden. Zudem konnte eine Verbindung zwischen dem Ausmaß des TNR-Recyclings und der synaptischen Aktivität hergestellt werden.

„Unsere Ergebnisse belegen, dass die extrazelluläre Matrix im Nervensystem wesentlich plastischer ist als bisher angenommen. Wir nehmen an, dass dieser Mechanismus nicht auf das TNR-Protein beschränkt ist, sondern auch andere Bestandteile der EZM betrifft“, sagt Erstautorin Dr. Tal Dankovich. „Die Erkenntnisse dieser Studie eröffnen ein völlig neues Untersuchungsfeld, das sich nicht nur für das Verständnis der EZM-Regulierung im Gehirn, sondern auch für die Plastizität und Stabilität des Gehirns im Allgemeinen als wichtig erweisen dürfte“, sagt Prof. Dr. Rizzoli, Seniorautor der Studie.

Es ist bekannt, dass eine Vielzahl von Gehirnerkrankungen mit ECM-Veränderungen einhergehen. Daher dürften sich diese Erkenntnisse aus der Grundlagenforschung in Zukunft auch als bedeutsam für die klinische Forschung erweisen.

Das Göttinger Exzellenzcluster 2067 Multiscale Bioimaging: Von molekularen Maschinen zu Netzwerken erregbarer Zellen (MBExC) wird seit Januar 2019 im Rahmen der Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert. Mit einem einzigartigen interdisziplinären Forschungsansatz untersucht MBExC die krankheitsrelevanten Funktionseinheiten elektrisch aktiver Herz- und Nervenzellen, von der molekularen bis hin zur Organebene. Hierfür vereint MBExC zahlreiche universitäre und außeruniversitäre Partner am Göttingen Campus. Das übergeordnete Ziel: den Zusammenhang von Herz- und Hirnerkrankungen zu verstehen, Grundlagen- und klinische Forschung zu verknüpfen und damit neue Therapie- und Diagnostikansätze mit gesellschaftlicher Tragweite zu entwickeln.

Weitere Informationen
über Rizzoli Lab: http://rizzoli-lab.de/
über BIN: https://bin.umg.eu
über MBExC: https://mbexc.de/

WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität Göttingen
Institut für Neuro- und Sinnesphysiologie
Prof. Dr. Silvio O. Rizzoli
Humboldtallee 23, 37073 Göttingen
Telefon 0551 / 39-5911
E-Mail: srizzoli(at)gwdg.de

Exzellenzcluster Multiscale Bioimaging (MBExC)
Dr. Heike Conrad (Kontakt – Pressemitteilung)
Telefon 0551 / 39-61305
E-Mail: heike.conrad@med.uni-goettingen.de

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