| Presseinformation Nr. 029 / 2018

Auf den Spuren seltener Erkrankungen: Zentrum für Seltene Erkrankungen kümmert sich um „Waisen der Medizin“

Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen (ZSEG) an der UMG verbindet Grundlagenforschung mit klinischer Behandlung seltener Erkrankungen.

(umg) Seltene Erkrankungen werden auch „die Waisen der Medizin“ genannt, denn seltene Krankheiten sind nur sehr schwer zu diagnostizieren. Oft haben Patienten eine jahrelange Ärzte-Odyssee hinter sich und müssen sich damit abfinden, dass man ihnen in ihrem Leid nicht helfen kann. Sie fühlen sich dann von der Medizin verlassen. Eine Erkrankung wird als „selten“ bezeichnet, wenn sie weniger als 5 unter 10.000 Personen betrifft. Von zirka 30.000 bislang bekannten Krankheiten werden 7.000 bis 8.000 als selten eingestuft. Laut WHO sind in der Europäischen Union etwa 30 Millionen Menschen von einer seltenen Erkrankung betroffen, in Deutschland leiden etwa vier Millionen Menschen darunter.

Erste Symptome können bereits im Kindesalter oder auch erst im Erwachsenenalter auftreten. In vielen Fällen handelt es sich dabei um genetisch bedingte Krankheiten, die einen chronischen Verlauf nehmen und die Patienten ein Leben lang begleiten. Viele seltene Erkrankungen weisen komplexe Krankheitsbilder mit teilweise unterschiedlich ausgeprägten oder unklaren Symptomen auf. Oft sind mehrere Organsysteme betroffen. Für den betroffenen Patienten kann es deshalb ein sehr langer Weg bis hin zu einer korrekten Diagnose und zu einer wirksamen Therapie sein. Im Schnitt vergehen fünf Jahre bis zu richtigen Diagnose.

DAS ZENTRUM FÜR SELTENE ERKRANKUNGEN GÖTTINGEN

Die Universitätsmedizin Göttingen (UMG) hat dafür das „Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen (ZSEG)“ eingerichtet. Es dient Patienten, deren Angehörigen und behandelnden Ärzte als regionale und auch überregionale Anlaufstelle. Hier profitiert der Patient von einem interdisziplinären Team, das Wissen und Kompetenzen von Experten aus unterschiedlichen Kliniken und Instituten bündelt.

Das „Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen“ an der UMG umfasst 11 Spezialzentren für seltene Erkrankungen, an denen 14 Kliniken, 9 Institute und die Zentralabteilung Krankenhaushygiene und Infektiologie beteiligt sind. Es hat eine eigene Koordinierungsstelle für die gemeinsame Arbeit. Alle arbeiten zusammen unter einem Dach an der Behandlung und Erforschung seltener Erkrankungen.

„Wenn eine einzelne Erkrankung sehr selten ist, kann es teilweise Jahre oder Jahrzehnte dauern, bis eine richtige Diagnose gestellt wird. Für die Patienten bedeutet dies oftmals eine „diagnostische Odyssee“ von Arzt zu Arzt, ohne dass die Ursache ihrer Erkrankung gefunden wird. Und eine richtige Diagnose ist die Grundvoraussetzung für eine wirksame Therapie“, sagt Prof. Dr. Jutta Gärtner, Sprecherin des Vorstandes des ZSEG der UMG.

Prof. Dr. Heyo K. Kroemer, Sprecher des Vorstands der UMG, sagt: „Das ‚Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen‘ ist ein hervorragendes Beispiel für die Bedeutung universitärer Medizin für Göttingen und die Region. Solche Spezialleistungen in dieser Breite sind nur an universitätsmedizinischen Standorten möglich. An der UMG haben wir mit dem ZSEG für die Region und bundesweit ein Angebot von Spitzenforschung und klinischer Kompetenz gewonnen. Schon jetzt ist das ZSE Göttingen ein Magnet für Patienten mit seltenen Erkrankungen, denen hier mit hoher Expertise und vielseitiger interdisziplinärer Zusammenarbeit vielversprechende Hilfe geleistet werden kann.“

ERFORSCHUNG SELTENER ERKRANKUNGEN IM ZSEG

„Durch den Fortschritt der modernen Genomforschung ist die Anzahl der seltenen Erkrankungen in den letzten Jahren stetig angestiegen. Und nur für wenige dieser Erkrankungen gibt es bislang wirksame Therapien“, so Prof. Dr. Bernd Wollnik, Vorstandsmitglied des ZSEG und Direktor des Instituts für Humangenetik der UMG. „Deshalb legen wir einen weiteren Schwerpunkt unserer universitären Arbeit in die Erkennung und Therapieforschung dieser seltenen Erkrankungen.“ Im ZSEG arbeiten Ärzte und Wissenschaftler zusammen mit lokalen außeruniversitären Einrichtungen, wie den Göttinger Max-Planck-Instituten, und weiteren nationalen und internationalen Forschergruppen daran, die Grundlagen seltener Erkrankungen aufzuklären. Gemeinsame Patientenregister sind dafür ein wichtiges Instrument. Sie erleichtern die Sammlung und Interpretation von Daten zur Diagnostik, zu Krankheitsverläufen und Therapien einer einzelnen Erkrankung. Neue Diagnoseverfahren und Behandlungsmethoden können die Forscher so entdecken und weiterentwickeln. Die Grundlagenforschung beschäftigt sich mit der genetischen, zellbiologischen und biochemischen Basis einer seltenen Erkrankung.

INTERDISZIPLINÄRE ZUSAMMENARBEIT IM ZSEG

Das ZSEG bietet Ärzten und Wissenschaftlern ein enges Netzwerk. Es schafft eine Struktur, um Patienten mit bislang nicht diagnostizierten seltenen Erkrankungen effektiver helfen zu können. Die Betroffenen können dem ZSEG ihre bisherigen medizinischen Befunde übermitteln. Diese Befunde werden dann in klinikübergreifenden Fallkonferenzen besprochen. Für weitere Untersuchungen zur Diagnose stehen moderne Diagnosetechniken, wie bildgebende Verfahren oder genetische Analysemethoden, in der UMG zur Verfügung.

Bei der Behandlung einer seltenen Erkrankung stehen nicht nur die medizinischen Aspekte einer Erkrankung im Mittelpunkt. „Gerade bei chronischen Erkrankungen, für die unter Umständen noch nicht einmal wirksame Therapien bekannt sind, ist zudem ein breites Angebot an psychosozialen Hilfsmaßnahmen entscheidend“, sagt Prof. Dr. Knut Brockmann, Vorstandsmitglied des ZSEG und Ärztlicher Leiter des Sozialpädia-trischen Zentrums der UMG. „Deshalb ist uns die Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen so wichtig. Sie bringen die Betroffenen miteinander in Kontakt und ins Gespräch über ihre Erfahrungen. Sie können sich über eine bestimmte seltene Erkrankung austauschen und informieren.“

DAS BIETET DAS ZENTRUM FÜR SELTENE ERKRANKUNGEN GÖTTINGEN (ZSEG)
  • Die Koordinationsstelle des ZSEG hilft, die richtigen Ansprechpartner zu finden.
  • Spezialisierte Mediziner und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen arbeiten eng zusammen, um eine optimale Diagnostik und Therapie zu gewährleisten.
  • Spezialisierte Mediziner der verschiedenen Fachrichtungen suchen gemeinsam bei bereits diagnostizierten Seltenen Erkrankungen nach Therapieoptionen.
  • Interdisziplinäre Teams fahnden nach den Ursachen seltener Erkrankungen: Erst die Zusammenarbeit zwischen Ärzten, spezialisiertem Pflegepersonal, Wissenschaftlern, Psychologen, Physiotherapeuten, Logopäden u.v.a. kann den verschiedenen Aspekten einer seltenen Erkrankung gerecht werden.
  • Innovative Spezialdiagnostik universitärer Medizin hilft, viele seltene Erkrankungen mit neuesten Untersuchungsmethoden, wie z.B. Genanalyse mit Next Generation Sequencing oder Bildgebung mit Echtzeit-Kernspintomographie, eindeutig zu diagnostizieren.
  • Spezialisierte Forschergruppen an der UMG können über fortlaufende klinische Studien neue Diagnosemöglichkeiten und effizientere Therapien entwickeln.
  • Kooperationen mit nationalen und internationalen Arbeitsgruppen, die an seltenen Erkrankungen forschen, um neueste Erkenntnisse zu bündeln und auszutauschen.
  • Enge Zusammenarbeit mit Selbsthilfegruppen für einen Austausch von Betroffenen und deren Angehörigen.
BEISPIEL: ZSEG ENTDECKT WELTWEIT ERSTMALS SELTENES KRANKHEITSBILD BEI FAMILIE BOPP UND RETTET KINDERN DAS LEBEN

„Mit drei Jahren begann Sebastian zu stolpern, irgendwann stand er nicht mehr auf, konnte nicht mehr sprechen und greifen, bekam epileptische Anfälle. Drei Monate später saß er pflegebedürftig im Rollstuhl.“ So beginnt die Patientengeschichte der Familie Bopp aus Ellwangen, der im ZSEG der Universitätsmedizin Göttingen (UMG) geholfen werden konnte. Dort wurde weltweit erstmals das sehr seltene Krankheitsbild der Cerebralen Folattransportdefizienz (CFTD) entdeckt und es konnte eine Therapiemöglichkeit gefunden werden.

Dr. Gabriela und Robert Bopp, die Eltern von Sebastian, Janina und Bria, berichten von der plötzlichen Erkrankung ihres Sohnes „aus dem Nichts heraus“, über den schnellen Verlauf der Erkrankung und die von den Ärzten nur noch niedrig angesetzten Lebenserwartung. Mit drei Jahren begann Sebastian zu stolpern, irgendwann stand er nicht mehr auf, konnte nicht mehr sprechen und greifen. Innerhalb von sechs Monaten war Sebastian an den Rollstuhl gefesselt, verlor nach und nach die Kontrolle über seine Körperfunktionen und hatte stündlich, Tag und Nacht, epileptische Anfälle. Dann traten die ersten Symptome auch bei der jüngeren Schwester Janina auf. Auf der Suche nach medizinischer Hilfe kam die Familie in die Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der UMG. „Alle Erklärungsansätze der Ärzte waren hinfällig“, sagt Robert Bopp. „Die Universitätsmedizin Göttingen wurde uns als einzige Alternative genannt. Nach wochenlangen Krankenhausaufenthalten war unsere Erwartung nicht hoch.“

Am Göttinger „Zentrum für Seltene Kinderneurologische Erkrankungen (GoRare)“ der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin (Direktorin: Prof. Dr. Jutta Gärtner) der UMG diagnostizierte Prof. Dr. Dr. Robert Steinfeld bei Sebastian eine bis dahin unbekannte Form der genetisch bedingten Cerebralen Folattransportdefizienz (CFTD). Die MRT-Bilder von Sebastian zeigten, dass in seinem Gehirn zu wenig weiße Hirnsubstanz vorhanden war. Das für deren Aufbau erforderliche Folat kam nicht im Gehirn an.

Die Experten des Zentrums für Seltene Kinderneurologische Erkrankungen fanden heraus, dass das Gehirn nicht mit dem lebenswichtigen Vitamin B9 versorgt wird und dass eine bestimmte Gen-Mutation die Ursache ist. Die Erkenntnis: Folat wurde zwar im Blut, aber nicht im Gehirnwasser gefunden, der Transport ins Gehirn war gestört. Im Laufe von zwei Jahren entwickelten die Experten einen neuen Therapieansatz. Kurze Zeit später verschwanden Janinas Symptome. Auch Sebastians Zustand verbesserte sich. Bei der im Jahr 2009 geborenen Bria wurde ebenfalls eine CFTD diagnostiziert. Mit der Erfahrung aus der Behandlung der Geschwister konnte sofort mit einer Therapie begonnen werden. Es kam nie zum Ausbruch der Symptome. Bria hat sich völlig normal entwickelt.

„In unserem Zentrum für Seltene Kinderneurologische Erkrankungen bündeln wir Kompetenzen. Wir versuchen, Krankheitsmechanismen zu verstehen und zeitnah in eine Therapie zu überführen. Auch in diesem Fall können wir sagen: Wir lernen immer noch dabei“, sagt Prof. Dr. Jutta Gärtner, Direktorin der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin der UMG.

Weitere Informationen im Internet unter www.zseg.uni-goettingen.de

WEITERE INFORMATIONEN
Universitätsmedizin Göttingen, Georg-August-Universität
Zentrum für Seltene Erkrankungen Göttingen
Koordination: Dr. rer. nat. Stina Schiller, Dr. med. Christin Johnsen
Telefon 0551 / 39-65118
zseg(at)med.uni-goettingen.de
Robert-Koch-Straße 40, 37075 Göttingen
www.zseg.uni-goettingen.de

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